Der neue Festivalleiter

Im Interview mit den Thüringer Bachwochen

Im 21. Jahr ihres Bestehens erhalten die Thüringer Bachwochen mit Carsten Hinrichs einen neuen Festivalleiter. Der Musikwissenschaftler und Journalist gilt als erfahrener Chefdramaturg und Nachfolger von Christoph Drescher. Im Interview mit Jessika Fichtel verrät er, was Besucher des Festivals in diesem Jahr und zukünftig erwarten können.

Carsten Hinrichs, 1974 geboren. Er studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Romanistik. Von 2003 bis 2011 war er als Programmplaner und Pressechef bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik, dann von 2009-2012 bei den Musikfestspielen Potsdam-Sanssouci. Seit Mai 2019 ist er dort als Chefdramaturg erneut für die Planung des Programms und die künstlerische Koordination verantwortlich, seit Anfang 2023 als stellvertretender Künstlerischer Leiter.

Herr Hinrichs, mit welchen Visionen haben Sie Ihre Arbeit als Festivalleiter der Thüringer Bachwochen aufgenommen?

Die Thüringer Bachwochen sind in ihrem 21. Jahr ein erfolgreiches und von meinem Vorgänger mit Erfahrung positioniertes Festival. Dennoch stehen wir vor Herausforderungen, wenn es darum geht, Menschen dazu zu bewegen, Konzerte mit klassischer Musik zu besuchen. Ich habe das Publikum der Bachwochen kennengelernt und genau beobachtet. Was begeistert die Menschen, wenn sie zu uns kommen? Das Erlebnis vor Ort, wie werde ich empfangen, fühle ich mich angesprochen – all das wird in den kommenden Jahren noch wichtiger werden. Für mich ist das beste Argument für Musik, dass sie unmittelbar erfahren wird und live entsteht, während ich dabei bin.

Das Motto der diesjährigen Thüringer Bachwochen lautet „Ende und Anfang aller Musik“. Welche Intention verbirgt sich dahinter?

Dabei handelt es sich um ein Motto von Max Reger, das wir gegen den Strich gebürstet haben. Reger bezeichnete Bach ehrfürchtig als „Anfang und Ende der Musik“. Indem wir das auf den Kopf stellen, möchten wir das vorherrschende Gefühl durchbrechen, alles liefe auf ein Ende zu. Das Ende ist nur die Zäsur vor dem Neubeginn, der noch nicht sichtbar ist. Einen radikalen Umbruch bedeutete z. B. das blutige Ende des Bauernkriegs vor 500 Jahren und der Ruf nach „freiheyt“, dem die Thüringer Landesausstellung gewidmet ist und den wir in einem Konzert in Mühlhausen in Musik lebendig werden lassen.

Im Rahmen der Thüringer Bachwochen 2025 finden mehr als 60 Veranstaltungen in ganz Thüringen statt. Auf welche Erlebnisse dürfen sich die Besucher alles freuen?

Das Alleinstellungsmerkmal der Thüringer Bachwochen unter den weltweiten Bachfestivals ist die Fülle an originalen Wohn- und Wirkungsstätten Johann Sebastian Bachs und seiner großen Familie. Das lockt zu Ostern nicht nur Thüringer, sondern Reisegruppen aus ganz Europa an. Dieses Jahr werfen wir einen Blick in seine Komponistenwerkstatt, denn 1725 war ein großer Wendepunkt in Bachs Schaffen. Vielleicht hatte er vor, eine Nachdichtung der Passionsgeschichte zu vertonen – ein spekulatives Bach-Werk, das wir als Vorschlag am 15. April in Schmalkalden aufführen. Dann aber entschied er sich, seine Johannes-Passion umzuarbeiten und mit noch dramatischeren Arien zu verschärfen. Das kann man sich am Karfreitag in Arnstadt anhören. Am Osterfest, das damals noch drei Tage dauerte, führte Bach drei völlig unterschiedliche Kantaten auf. Diese erklingen am Karsamstag in der Eisenacher Georgenkirche. Das ist für mich eines der Highlights des Bachwochenprogramms.

Bachs Musik gilt als zeitlos, dennoch möchte das Festival viele verschiedene Menschen vom Musikfachmann bis zur Familie ansprechen. Welche Rolle spielen musikalische Freiheit und moderne Interpretationen im Rahmen der Thüringer Bachwochen?

Als die junge Szene der Alten Musik ihren Durchbruch erlebte, geschah das vor allem aus zwei Gründen: Es gab viel neue, unerhörte Musik zu entdecken und die Musiker mussten in der Barockmusik ganz anders interagieren und live improvisieren. Sie waren also wieder viel stärker an der Aufführung beteiligt als im klassisch-romantischen Repertoire. Die Musiker sind eher bereit, etwas Neues auszuprobieren, mit der Aufführungssituation zu spielen und auch Risiken einzugehen. Ob wir also für das Eröffnungsfest am 13. April Alte Musik in die neuen Räume des KONTOR stellen, an Ostern mit Volksmusikinstrumenten durch den Ilmpark wandern oder am 1. Mai David Bergmüller im Jenaer Trafo aus seiner Laute alle Beats für ein Clubkonzert kitzelt – es geht immer um dasselbe: Die Menschen wach und in den Moment zu kriegen.

Würden Johann Sebastian Bach solche musikalischen Experimente und Freiräume gefallen?

Wenn man liest, dass der junge Bach nach Lübeck gewandert ist, um von Dietrich Buxtehude die norddeutsche Orgelkunst abzulauschen und danach den Arnstädtern im Gemeindegesang die Ohren weggeflogen sind, weil sie von den neuartigen und schrägen Harmonien, die Bach dem Choral unterlegte, völlig verwirrt wurden, dann lautet die Antwort: Auf jeden Fall!

Johann Sebastian Bach und Thüringen sind untrennbar miteinander verbunden. Warum ist die „Faszination Bach“ bis heute ungebrochen?

Ich kenne keinen Musiker, der sich durch das Werk Bachs nicht angesprochen, zumindest aber kreativ herausgefordert fühlt. Bachs Musik ist universal, auch über kulturelle Grenzen hinweg. Er hat in seinen Kompositionen etwas Überpersönliches, Ur-Menschliches eingefangen, das für jede und jeden einen Platz bereithält. Da ist es doch ein schöner Gedanke, dass Bach seine musikalischen Fähigkeiten hier in Thüringen erlernt hat, auf den Schultern einer großen Familie von Musikern, in einem Netzwerk, das ihn förderte und ausbildete.

Auf welcher Art von Konzert trifft man Sie privat? Wäre beispielsweise das Programm der Jenaer Kulturarena etwas für Sie?

Auf jeden Fall! Zuhause fühle ich mich in der klassischen Musik von der Renaissance bis heute. Aber meine Neugier ist überhaupt nicht dogmatisch, ein Stück, das mich packt, kann auch ein Track von Daft Punk sein oder Filmmusik von Morricone oder Jazz. 

Werfen wir zum Abschluss einen Blick in die Zukunft der Thüringer Bachwochen: Wohin möchte sich das Barockfestival in den kommenden Jahren entwickeln?

Wenn wir uns stetig so weiterentwickeln können, dass wir auch nach all den Herausforderungen und Umbrüchen, die uns möglicherweise bevorstehen, zum 25. Jubiläum der Bachwochen 2029 Konzerte bieten, die Menschen zusammenkommen lassen, berühren und begeistern, haben wir alles erreicht.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Hinrichs.
 

 

Bach in Thüringen

In Eisenach geboren führte ihn die Reise seines Lebens nach Ohrdruf, Arnstadt, Mühlhausen und Weimar. Nicht alle seine Arbeitgeber schätzten seine Art. Vor allem war der junge Bach trotzig und eigensinnig, wie Genies eben sind.

 

 

Interview: Jessika Fichtel ist freiberufliche Texterin, Bloggerin und Buch-Autorin aus Eisenach. Mit Leidenschaft und Expertise erstellt sie authentische Inhalte.
Titelbild:  Zentralheize Erfurt, ©Candy Welz, Thüringer Bachwochen e.V.


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